Feinbaum
(It’s exactly ten years today since the book »Feinbaum« was published. I wrote about it in my article »A Jubilee« a few weeks ago. – Here’s the book’s title story. It’s based on a real-life colleague of mine, though with quite some poetic licence, of course. The text is in German, since that’s how it was written and published.)
Kollege Feinbaum war ein Rätsel. Er gehörte zu den Gotteskindern, bei denen ich mir nie darüber schlüssig werden kann, ob ihr Schöpfer sie nun ganz besonders liebt oder ob er sie ganz ungewöhnlich stark hasst. Mag sein, dass der Schöpfer es selbst nicht so genau weiß und in seiner Haltung diesen Menschen gegenüber ebenso schwankend ist wie wir Sterblichen.
Klar ist jedenfalls, dass Menschen wie Feinbaum niemandem jemals egal sind, solange sie unter uns wirken. Oder dass sie übersehen werden.
Feinbaum hatte helle Tage. Da strahlte er.
Wärme und Licht umgaben ihn, und die Luft um ihn herum vibrierte geradezu. An diesen Tagen war Feinbaum das Kraftfeld, das uns alle anzog und inspirierte. Es schien beinahe, als werde an diesen Tagen sein Körper zu eng für seine ausgreifende Seele und seinen arbeitenden Geist. Sie strömten aus ihm heraus und umgaben ihn wie ein Fluidum, das jeder spürte, der das Glück hatte, an diesen Tagen mit ihm zusammenzuarbeiten.
Er war zu diesen Zeiten ein Gentleman und Charmeur, ein Wunderheiler und Magier – er war der Matador und Held in unserer Agentur, ohne auch nur im Geringsten großzutun.
Und er war ein begnadeter Designer. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass er an seinen hellen Tagen einer der Besten war, mit denen ich je zusammengearbeitet habe – vielleicht der Beste überhaupt. Seine Ideen waren klar und licht und von jener einfachen Eleganz, die den großen Gestaltern der Kunstgeschichte eigen ist.
Und überdies war Feinbaum in der Lage, seine Entwürfe zu erklären. Da war nichts zufällig, nichts überflüssig – alles leitete er im ungezwungenen Plauderton her und gab seinen Zuhörern die Gewissheit ein, dass sie selbst es auf ganz dieselbe Weise gelöst hätten.
Diese hellen Tage und Feinbaums dann wirkende Größe als Gestalter waren der Grund dafür, dass er nicht zwei, drei Wochen nach seiner Einstellung in der Firma wieder hinausgeworfen worden war.
Denn es gab neben seinen hellen auch seine dunklen Tage.
Das waren die Tage, an denen ihn sein Schöpfer hasste und an denen Feinbaum die Verkörperung der geknechteten und gequälten Kreatur war.
Feinbaum fiel binnen kürzester Zeit in sich zusammen – er schien sogar körperlich zu schrumpfen, zu verwelken. Sein Licht erlosch, und stattdessen breitete sich um ihn ein Schatten aus, der mehr fühlbar als sichtbar war. Ja, Schatten umgab ihn, Hoffnungslosigkeit, so intensiv, dass sie sich beinahe wie Wut anfühlte. Ich meine gar – es fällt mir selbst heute nicht leicht, das zu sagen – ich meine gar, Feinbaum habe an seinen dunklen Tagen auch ganz profan gerochen. Oder um es geradeheraus zu sagen: er begann zu stinken.
Wie eine kranke, verhungernde Krähe stakte er durchs Büro und hackte nach allen Seiten um sich. Er knurrte und zischte und fauchte. Er war allen feind, und gerade denen, denen er in hellen Tagen sein Herz geöffnet hatte, begegnete er mit ganz besonders bitterer Feindseligkeit.
***
Wir Menschen sind leider so geschaffen, dass uns die schlechten Dinge mehr beeindrucken als die guten. Daher war es nicht verwunderlich, dass Feinbaums dunkle Tage auf Dauer die größere Wirkung entfalteten.
Er schreckte die Menschen ab. So sehr, dass er sie auch in seinen hellen Tagen immer weniger zu bezaubern und zurückzugewinnen vermochte.
Feinbaum war bald isoliert. Und mit zunehmender Isolation gewannen die dunklen Tage auch über ihn selbst mehr Macht. Die bösen Phasen wurden nicht nur intensiver, sondern sie nahmen auch an Dauer zu. Zuletzt konnte auf ein, zwei freundliche Tage wochenlange Düsternis folgen.
Feinbaum zog sich zurück. Immer häufiger verweigerte er sogar die Arbeit. Irgendwann begann er, sich einen Schal über den Kopf zu werfen, wenn er zusammengekauert an seinem Schreibtisch in der Ecke hockte.
Er wurde allmählich zum Spuk seinerselbst, zu einem bitterbösen Witz.
Es kamen neue Kollegen, die seine hellen Tage nie erlebt hatten; alte Kollegen gingen. Die Neuen lachten über die alte Krähe und ergötzten sich an seinem hasserfüllten Gegreine.
Feinbaum, der Büroschrat.
Schließlich verklang auch das Lachen. Der böse Witz war abgenutzt. Feinbaum spielte keine Rolle mehr. Ein alter Klepper, dem der Chef aus irgendwelchen Gründen noch ein Gnadenbrot gewährte.
Nein, er spielte keine Rolle mehr. Ein Designer? Nein. Feinbaum war nichts.
Zu jener Zeit verließ ich selbst die Firma. Ich hatte neue Pläne und zog in die Welt hinaus, um ihr meinen Stempel aufzudrücken. Feinbaum, dem ich als einer der letzten noch die Treue gehalten hatte, schwand aus meinem Gesichtskreis und rasch auch aus meinen Gedanken.
***
Es mag fünf oder sechs Jahre später gewesen sein, dass ich in die Stadt zurückkehrte. Aus Nostalgie und – ich will es gestehen – aus einem kleinen bisschen Geltungssucht heraus stattete ich auch dem Büro einen Besuch ab.
Es war zunächst recht enttäuschend, denn von der alten Belegschaft war fast keiner mehr da. Der Chef schien mir nachzutragen, dass ich gekündigt hatte, und war kurzangebunden. Die anderen – nun, die junge Generation. Sie saßen klickend und klackend vor Monitor und Tastatur, nippten in kleinen Vogelschlucken Kaffee aus Pappbechern oder Wasser aus Sportflaschen, die wie Astronautengeräte aussahen. Sie waren vertieft und – jung. Sie wollten meine Geschichten aus der Welt nicht hören.
Enttäuscht und verärgert wendete ich mich bereits zum Abschied. Den Hut in der Hand grüßte ich flüchtig in den Raum hinein – und erblickte hinten in der dunklen Ecke Feinbaum.
Den alten Feinbaum!
Sagte ich vorhin, der Mensch behalte nur die dunklen und bösen Dinge in Kopf und Herz? Unsinn, Geschwätz! Ich entdeckte Feinbaum, und es durchzuckte mich wie ein froher Schreck. Die guten Tage, die hellen Tage waren es, die mir plötzlich wieder präsent waren. Feinbaum, leuchtend und vibrierend. Feinbaum, der Freund des Schönen. Feinbaum, der augenzwinkernde Design-Riese.
Ich warf den Hut wieder zurück auf die Ablage und war mit fünf, sechs Schritten bei ihm. Der große Schal hing über seinem Kopf und verhüllte auch den gebeugten Oberkörper fast völlig. Dunkle Tage, keine Frage. Doch vielleicht war mein Besuch, war das Wiedersehen unverhofft genug, um Feinbaums schwarzen Himmel zu durchbrechen und mir eine gnädige Aufnahme zu verschaffen.
Ich lächelte und war fast gerührt, als ich Feinbaums Schulter fasste und ihn sanft rüttelte.
»Feinbaum. Was macht die Kunst, hm?«
***
Es ist nicht Gutes oder Böses im großen Zusammenhang, das uns im Gedächtnis haften bleibt, nein. Ich korrigiere mich zum zweiten Male und behaupte, dass kleine, losgelöste Fragmente es sind, das wir nie vergessen, Nebensächlichkeiten, die unser Geist sich zu Monumenten macht, winzige Details – Details wie jene dünne schwarze Spinne, die aus der Düsternis unter Feinbaums Schal fiel, als ich ihn rüttelte.
Feinbaums Beerdigung war schon drei Tage später. Außer mir waren nur ein entfernter Verwandter da und der Chef.
Es war ein windiger, nasskalter Februartag. Ich fröstelte und zog mir den Schal ein wenig höher.
P.S.: The photo above was taken by Ela in a subway station in Copenhagen.
P.S.: Oh, and as for the Black Dog in the teaser, I’d like to refer you to the book »Churchill’s Black Dog, Kafka’s Mice, and Other Phenomena of the Human Mind« by psychiatrist Anthony Storr.