Tram Line 1 | Linie 1

(In German only this time. – Die Geschichte gibt es, wie immer, auch wieder als Download: »Linie 1«, PDF, 105 kB.)
Man wird es für einen Manierismus halten, wenn ich den Namen der Stadt C. abkürze, und mutmaßen, ich wolle damit dem Vorbild des einen oder anderen großen Schriftstellers nacheifern, seine Mittel nachäffend, ohne ihn natürlich in Größe des Ausdrucks und des Stoffs zu erreichen.
Mag es so sein. Der wirkliche Grund ist ganz praktisch: der Name der Stadt C. ist eine halbe Zeile lang, eines der Buchstabenungetüme, die Leser in den großen westlichen Metropolen in Angst und Schrecken versetzen und ihnen Schwindel verursachen. Also schreibe ich C. – und ein jeder mag sich daraus etwas Passendes zusammenreimen.
Auch den Tugenden der Aufrichtigkeit und der Bescheidenheit ist mit der Beschränkung aufs Initial gedient, denn C. ist alles in allem eine dürftige Angelegenheit, die den unmäßigen Aufwand an Buchstaben nicht im entferntesten rechtfertigt, den die Namensgeber einst betrieben haben. Und wer sich ein wenig in der Welt umgesehen hat, der mag sogar in Frage stellen, ob C. überhaupt treffend als Stadt tituliert werden kann. Dem Reisenden, der sich C. nähert, zeigt sich ein zusammengedrängtes Gemenge aus Häusern, das zwischen die Flanken zweier Hügelketten gezwängt ist und dem noch der Fluss, der durch das enge Tal geht, den knappen Raum streitig macht.
Der Reiseführer erwähnt in zwei leicht zu übersehenden Absätzen nur die Durchreise eines Dichterfürsten vor langer Zeit und einen Münzfälscher, der einst in C. sein Handwerk lernte, zu Ruhm und Reichtum und zu einem grausigen Ende aber weit weg, am Ufer des Nordmeers, kam. Ansonsten blieb C. unbeachtet am Rand der großen Geschehnisse. Zu Zeiten des Mongolensturms wird es kaum anders in seiner Nische zwischen den Hügeln gelegen haben als heute.
Ein paar Tausend Seelen, fünf Konfessionen, sieben schmackhafte Obstbrände. Viel mehr hat es nicht auf sich mit der Stadt C.
Weil’s aber, wo der Mensch sich niederlässt, nicht anders sein kann, so gelten die Stadtteile links und rechts des Flusses nicht einfach nur als die zufälligen, den Umständen geschuldeten Hälften des Ganzen, sondern verkörpern das gute und das schlechte C. – Rathaus, Heimatmuseum, Apotheke, Uhrmacher, Gymnasium und Bürgerhäuser hier; Sägewerk, Gaststuben, grobes Handwerk, Volksschule und gewöhnliche Behausungen gewöhnlicher Leute dort.
Denn was wären wir Sterblichen ohne die segensreiche Einrichtung des Oben und Unten, ohne die tröstliche Gewissheit, dass es immer irgendeinen gibt, der in ganz unerschütterlicher Richtigkeit und Ewigkeit unter einem selbst steht und auf den man mit einer beiläufigen Mischung aus Gelangweiltheit und Ekel hinabsehen kann? Gebt dem ärmsten Bettler einen blinden Berufsgenossen zur Seite, und er wird die Brust in einer Aufwallung von Genugtuung recken und blähen, dass die Flicken von der Jacke platzen. Und der blinde Bettler wiederum wird vielleicht des Lahmen oder des Schwachsinnigen mit mitleidvoll-verächtlichem Lächeln gedenken. Selbst der auf der alleruntersten Stufe hockende, geduckte Unglücksrabe schließlich wird Trost darin finden, einen halbverhungerten, zahnlosen Hund zu triezen und zu beherrschen, oder auch nur darin, einem zappelndem Käfer ein Bein auszureißen.
Der Mensch scheint so gebaut. Und wäre es anders – gäbe es den lindernden und die eigene Schmach vergessen machenden Blick nach unten nicht –, dann wäre doch alle Ordnung längst zusammengestürzt, und jeglicher Fortschritt wäre undenkbar.
Solchen oder ähnlichen Gedanken gab sich Kubin hin, als er an dem sehr kühlen Februarmorgen, von dem hier berichtet werden soll, die Eingangstüre zu seiner Kanzlei verschloss, die er soeben nach einem kleinen Frühstück und dem Zusammensuchen einiger Akten verlassen hatte.
Den Sitz seiner Kanzlei hatte Kubin, gleich nach seinem Examen und der Akkreditierung durch die Anwaltskammer, ganz bewusst in die schlechte, die östliche Hälfte von C. gelegt. Nicht aus Sparsamkeit, denn ihm stand durch eine Erbschaft von einem Großonkel ein kleines, festen Grund bietendes Vermögen zur Verfügung.
Vielmehr hatte ihm etwas den Anstoß gegeben, das näherungsweise als romantisch-revolutionäre Aufwallung umschrieben sein mag, wobei das Revolutionäre darin ganz und gar unkonkret und ohne irgendeine Stoßrichtung verstanden werden muss und sich auf eine ungefähre, sozusagen poetische Schwärmerei beschränkte, die in Kubins Studienzeit wurzelte. Damals, zum ersten Male in der großen Hauptstadt, die ihn mit ihrer schieren Größe und ihrer niemals ruhenden ziellosen, lärmenden Geschäftigkeit betäubt und eingeschüchtert, ganz wie der allererste nahe Anblick einer wirklichen nackten Frau aber auch aufgewühlt hatte – damals hatte er das rege Treiben der unzähligen freidenkerischen Zirkel und akademischen Debattierclubs bewundert, die mit immer neuen gewichtigen Denkschriften und Zeitungen den überfälligen Umsturz auszulösen bemüht waren. Kubin hatte sie stets nur aus der Ferne bestaunt, wie sich versteht, denn seine strenge, ganz an den praktischen Anforderungen des Lebens ausgerichtete Erziehung ließ ihn nicht im Traume daran denken, auch nur für kurze Ausflüge vom schnurgeraden, kürzestmöglichen Pfad abzuweichen, den ihm Lehrplan, Prüfungstermine und die mit den elterlichen Subsidien einhergehende Verpflichtung wiesen.
Mit dem Anmieten des Büros in der schlechten Stadthälfte von C. war mithin für Kubin so etwas wie eine späte Genugtuung verbunden gewesen, ein bescheidenes Sichgehenlassen sozusagen, und damit der Genuss, den die mit Absicht begangene harmlose, kleine, ja für Leute von Welt geradezu mikroskopische Sünde dem sich in den engen Bahnen althergebrachter Traditionen und Regeln bewegenden Menschen bereitet.
Kubin also schloss die Türe seiner Kanzlei, warf noch einmal einen prüfenden Blick in seine Aktentasche, zog die Taschenuhr – und weil er den Tag nun schon einmal mit den eingangs erwähnten philosophischen Betrachtungen begonnen hatte, blieb er so stehen, anstatt wie sonst auf die Straße zu stürmen und nach einer Kalesche zu schicken. Er blickte auf das weiße Zifferblatt der Uhr oder richtiger: er blickte durch es hindurch auf ein Bild, das ihm sein diesen Morgen so ungewöhnlich schweifender Geist entworfen und untergeschoben hatte. Die Bahn.
Es verhält sich so, dass die Stadt C. sich nicht nur mit einem langen Namen schmückt und einer guten und einer schlechten Stadthälfte, sondern dass der Magistrat vor vielen Jahren beschlossen hatte, dass C. einen Grad an Wichtigkeit und Größe erreicht habe, der das Fehlen einer Straßenbahn nicht mehr länger erlaube. Der Gedanke fand schnell große Zustimmung, und auch in der Haupstadt schien man dem Vorhaben wohlgesonnen und signalisierte Unterstützung. Kurz gesagt kann sich C. also einer Stadtbahn rühmen, wenn man auch, trotz der ursprünglich hochfliegenden Pläne, letztlich nicht über eine einzige Linie hinausgekommen ist. Und obwohl mithin keine Verwechslungsgefahr besteht, hat man dieser Linie, wie sich’s gehört, eine Nummer verliehen: es ist eben die Stadtbahnlinie 1. Sie verbindet über eine eigens zusätzlich errichtete Brücke hinweg die beiden Stadthälften östlich und westlich des Flusses und wird mit zwei Zügen betrieben, von denen der eine hinüberfährt, während der andere herüberkommt. Auf der Brücke begegnen sich die leuchtend gelben Fahrzeuge, und die Fahrer lassen zum Gruße die Signalglocke klingeln, ganz wie’s in der großen Hauptstadt Brauch ist.
Die gesamte Strecke der Linie 1 hat nicht mehr als zwölf, dreizehn Haltestellen, und die wiederum liegen dicht beieinander, weil einerseits die Triebwagen zu schwach waren, um die Hänge hinaufzukommen, und weil man andererseits im Magistrat bestrebt war, diesen neuen und am Ende mit doch recht erheblichen Kosten verbundenen Stolz der Stadt auf gar keinen Fall mit einer nur geringen Zahl von Stationen allzu kümmerlich wirken zu lassen.
Das Volk lässt sich auf Dauer aber kaum durch solche Zahlenspielereien täuschen, und schnell war klar, dass keiner, der aus Notwendigkeit zu einem anderen Punkt in der Stadt will und sich ein Pferd, ein Fahrrad, eine Kutsche oder gar ein Automobil leisten kann, diese Straßenbahn nimmt. Folglich war auch Kubin in den acht Jahren, seit er die Kanzlei eröffnet hatte, noch kein einziges Mal mit der Bahn gefahren.
Das ging ihm nun, an diesem Februarmorgen, durch den unruhigen Kopf; das war das Bild, auf das er durch die Taschenuhr hindurch blickte: er als Passagier in der Stadtbahnlinie 1. Und weil er sich keinen Schlenker, keinen noch so winzigen rebellischen Moment mehr erlaubt hatte seit der Wahl seiner anwaltlichen Niederlassung, beschloss Kubin, diesem gedanklichen Bild zu folgen und sich zur nächstgelegenen Haltestelle zu begeben, um sich auf das kleine Abenteuer einer Straßenbahnfahrt einzulassen.
Dass ihm genau beim Verlassen des Hauses ein einzelner, einsamer und darum umso hellerer Sonnenstrahl vor die Füße aufs feucht schimmernde Kopfsteinpflaster fiel, der sich aus dem verhangenen Himmel gestohlen hatte, nahm er als ein gutes Omen.
An der Haltestelle war niemand, obwohl der ordnungsgemäß an den Pfosten des Schilds befestigte Fahrplan anzeigte, dass die nächste Fahrt in weniger als zehn Minuten zu erwarten war.
Als sich der gelbe Triebwagen mit seinen drei Wagen dann rumpelnd und quietschend um die nächste Kurve der engen Straße schob, geschah dies pünktlich auf die Minute, wie Kubin mit Genugtuung feststellte. Pünktlichkeit, das war bei Licht besehen das einzige, was als wahrhaft zusammenhaltendes Element, als seine Seele gewissermaßen, das weithin gestreckte, lose Gebilde aus Völkerschaften und Landstrichen durchzog, mit dem man buchstäblich Staat zu machen versuchte. Dass die einem pünktlich eingehaltenen Termin vorangegangene Frist nicht selten schmerzhaft lang sein konnte, insbesondere wenn es eine Behörde war, die sich darauf verpflichtet hatte, stellte gar keinen Widerspruch dar. Gemächlich, aber pünktlich – das war die eigentliche Staatsphilosophie. Und vielleicht hielt auch nur darum das große Ganze noch zusammen, denn auch die Auflösung, die gewiss pünktlich zu gewärtigen war, brauchte ihre Zeit.
Unter solcherlei Gedankenspielen stieg Kubin in das Abteil der Ersten Klasse im mittleren Wagen und nahm gegenüber einem hochgewachsenen, hageren Herrn mit wachsgelber Trauermiene Platz, der ebensogut Gymnasiallehrer wie Bestatter sein konnte, und genoss den wohligen Schauer, der ihn durchlief, als die Bahn rüttelnd und bockend wieder anfuhr.
Der Wagen war nur spärlich besetzt, was aus bereits erwähnten Gründen nicht weiter verwunderlich war. Eine Handvoll kleine Angestellte in gepflegten, aber abgetragenen Anzügen, ein Geistlicher, eine Dame, die ihre drei Kinder mit einer Bahnfahrt unterhielt, und ein älteres Paar, das winzig klein und wie aus einer fremden Zeit versehentlich ins Jetzt gefallen am Ende des Wagens in den dunkelgrünen Polstern saß.
An den Enden des Wagens waren Durchgänge zu den beiden übrigen Waggons, denen der zweiten Klasse, wo, wie Kubin sehen konnte, als der Schaffner hereintrat, ein wenig mehr Leute auf den Holzbänken saßen, die man dort statt der Polstersitze installiert hatte.
Kubin löste sein Ticket und wandte dann zufrieden den Kopf zum Blick aus dem Fenster. Gerade fuhr die Straßenbahn mit einem das bisherige Rasseln nochmals übertrumpfenden Scheppern und Poltern auf die Brücke, um mit gedrosselter Fahrt den Fluss zu überqueren. Unten sah man einen großen, mit Baumstämmen beladenen und von seiner Last fast unters Wasser gedrückten Kahn hindurchgleiten. Ein paar Tropfen fielen gegen die Scheibe, ein Gruß aus dem grauen Himmel, und auf dem Fluss zeigten sich mehrende kleine Ringe an, dass es zu regnen begonnen hatte. Mit einem erneuten Getöse sprang der Zug wieder auf festen Boden, um dann wieder ins gewöhnliche Rütteln und Rumpeln zu verfallen, dem, wie Kubin zu bemerken meinte, ein regelmäßiger Rhythmus unterlag. Ein Rhythmus vielleicht wie unter der lärmenden Geschäftigkeit drüben im Sägewerk. Die Moderne, dachte Kubin, das ist die Moderne. Und wie interessant, so dachte er weiter, dass manche Bereiche des Wirtschaftens und Arbeitens so schnellen und großen Umwälzungen unterworfen waren, während etwa sein eigener sich heute nicht viel anders abspielte als vor zweihundert Jahren.
Der Regen prasselte nun stärker gegen die Scheibe und begleitete die schweren Arbeitsgeräusche der Bahn mit einem spielerischen »Tick, tick, titick, tick, tick, titick«. Und dazu quietschten die Federn der Sitze und die Streben der Gepäcknetze über den Köpfen der Passagiere.
»Der reine Musikkasten auf Rädern. Man bekommt was geboten, nicht?« bemerkte Kubin lächelnd und drehte sich damit seinem Gegenüber zu.
»Davon weiß ich nichts.«
Die Erwiderung kam zu Kubins Erstaunen nicht aus dem Mund des langen Mageren, sondern aus dem eines gedrungenen Herrn mittleren Alters, der jetzt mit vorgeschobenem Kopf und eckigen Schultern gegenüber saß, das Gesicht im Schatten eines dunklen Filzhuts. Ein graugesträhnter Bart hing etwas traurig auf das dunkle Halstuch und die dunkle Weste herab. Hell schimmerte nur das, was vom weißen Hemd zu sehen war. Seine riesigen Hände lagen wie gestrandete und erstickte Flundern reglos auf seinen Schenkeln.
Neben sich hatte er eine Frau, seine Gattin wohl, in hochgeschlossenem schwarzen Kleid und steif aufgerichtet, dabei aber stumm und keusch auf ihre im Schoß über einem schwarz eingebundenen Buch gefalteten Hände hinabblickend, die weiß und blau und rot vom Kleide abstachen. An ihrer Brust blinkte ein kleines silbernes Kreuz.
Zwei Paar Hände nebeneinander, und das Bemerkenswerte war, dass diese vier Hände das eigentliche Antlitz der zwei Menschen waren, die dort saßen, und alles zeigten, was in den matten, wie erloschenen Gesichtern keinen Ausdruck fand.
Kubin sah sich nach dem vorherigen Fahrgast um, dem hochgewachsenen Mageren, konnte ihn aber nicht entdecken. Stattdessen bemerkte er, dass das benachbarte Sitzgeviert von zwei Paaren besetzt war, die ganz die Kopien der Eheleute ihm gegenüber waren und die ihm vorher nicht aufgefallen waren.
»Verzeihen Sie – der Herr, der hier gesessen hat, so ein Langer …«, wandte sich Kubin an sein Gegenüber.
»Davon ist mir nichts bekannt.« Die schweren Hände hoben sich kurz von den Schenkeln, das Gesagte gleichsam entschuldigend.
Ungewöhnlich, ein ganz ungewöhnliches Vorkommnis: Wie hatte sich jener Bestatter oder Studienrat entfernen können, ohne dass Kubin es wahrgenommen hatte? Und wohin mochte er gegangen sein? Gab es einen Abtritt zwischen den Wagen, den er aufgesucht hatte? Einen Halt hatte es ja noch nicht wieder gegeben. Ein Halt – dieses Stichwort machte Kubin eine weitere sehr beunruhigende Beobachtung bewusst: Wenn man sich in der ganzen Stadt darüber lustig machte, dass man bei der Stadtbahnlinie 1 ohne Weiteres von einer Haltestelle zur nächsten spucken könne – hätte da der Zug nicht schon längst wieder eine Station erreicht haben müssen?
Aufgeschreckt spähte Kubin wieder aus dem Fenster. Draußen huschten die Häuser vorbei, soweit hatte alles seine Richtigkeit. Doch nicht die drei-, viergeschossigen Bürgerhäuser erkannte Kubin da draußen, nicht die kleinen architektonischen Schmuckkästchen mit Zierrat aller Epochen, die sich die Begüterten der Stadt C. in gedachter Nachahmung der großen Hauptstadt hatten errichten lassen, sondern unscheinbare, niedrige Häuschen eines ihm nicht vertrauten Viertels. Natürlich war ihm die Streckenführung der Linie 1 nicht geläufig; damit beruhigte sich Kubin zumindest über diesen Punkt. Aber dass man alle paar Dutzend Meter einen Halt zu erwarten hatte, das zumindest war ihm bekannt. Und also war er beunruhigt.
»Entschuldigen Sie nochmals, mein Herr, aber was, glauben Sie, wird der nächste Haltepunkt sein?« Kubin richtete diese Frage wieder an den versunken-ernsten Mann gegenüber, der allerdings auch dieses Mal nur wieder ganz kurz seine großen Hände ein wenig anhob. »Das weiß ich nicht, leider. Kommt Zeit, kommt Rat.« Seine Gattin bekreuzigte sich flüchtig, und Kubin sah, dass auch die zwei benachbarten Paare es ihr gleichtaten.
Das Frömmlerische hatte seinen festen Platz im Land, gleich nach der Pünktlichkeit – wenn nicht gar neben ihr, korrigierte Kubin seinen Gedanken von zuvor, während er sich halb aus dem Polstersitz erhob, um durch den Wagen zu spähen, ob er nicht den Schaffner oder wenigstens andere Passagiere ausmachen könne, von denen eher eine hilfreiche Auskunft zu erwarten wäre als von dem sechsköpfigen Bibelkreis, der ihn umringte.
Der Schaffner war nicht zu sehen. Ebensowenig allerdings auch die Angestellten von vorhin, und auch die Dame mit den drei Kindern konnte Kubin im, wie ihm nun auffiel, doch deutlich stärker bevölkerten Wagen nicht ausmachen. Wo waren nur alle die Leute hergekommen? Und wohin die anderen verschwunden? Konnte es denn doch einen Halt gegeben haben, ohne dass er es bemerkt hatte? War er denn so in Gedanken gewesen?
Das schien Kubin die einzige Erklärung, wenn auch keine, die ihn besonders überzeugte.
Aber was waren das nun auch für Leute, die jetzt die Sitze innehatten und sich hier und dort gar eine Vierergruppe zu sechst teilten, eng an eng? Waren das Fahrgäste der Ersten Klasse? Jene zwei wettergegerbten Männer mit den Lammfellwesten und den Pelzkappen, die geradewegs aus dem Gebirge herabgestiegen schienen? Oder jene in derbe Stoffe gekleideten, in lautes Palaver vertieften Leute dort hinten, einige gar mit Flicken an Knien oder Ellenbogen? Die Frauen mit fettigen Schürzen und grobem Schuhwerk, die die starken Arme in die Hüften gestemmt hielten? Gar zwei Soldaten sah er, einfaches Fußvolk in weiten, abgewetzten Feldmänteln und schmutzigen Einheitsstiefeln. Ihm fielen Münder mit Zahnlücken auf, schwarze Fingernägel, und grobe Dialektbrocken flogen umher.
Keiner von diesen Leuten hatte das Geld für ein Ticket der Ersten Klasse ausgegeben. Möglicherweise waren sie aus den anderen Wagen herübergekommen, um der dortigen Überfüllung auszuweichen. – Hatte der Schaffner sie gewähren lassen? Und sollte er, Kubin, sie gewähren lassen? – Nun, keine Scherereien, zumal doch diese Fahrt nicht mehr lange dauern konnte. Kubin blickte wieder hinaus, um bekannte Gebäude zu erspähen, die ihm die Nähe des Landgerichts und seines Vorplatzes mit dem Springbrunnen anzeigen konnten. Doch draußen sah es noch weniger danach aus als vorhin, und es zogen nun keine kleinen Häuser mehr vorbei, sondern geduckte Hütten, schiefe Katen, mit dunklen, grün bemoosten Bretterzäunen dazwischen. Immer öfter klafften nun auch größere Lücken zwischen den Behausungen, und der Blick fiel stattdessen auf Wiesen, auf kleine, winterlich nackte Äcker, über die Krähenschwärme strichen.
Das war nicht das Zentrum einer Stadt, durch das man da fuhr, nicht einmal das einer so kleinen Stadt wie C., sondern hier musste es sich um einen ihrer Ausläufer handeln, der immer dünner wurde, bevor sich die Bebauung schließlich ganz und gar verlor und der Landschaft Platz machte. Kubin kannte dieses Auströpfeln von Siedlungen von seinen früheren Eisenbahnfahrten in die ferne Hauptstadt und zurück.
Diese Erkenntnis ließ sein Herz einen Sprung machen, und Kubin war nun nicht mehr beunruhigt, sondern alarmiert.
Wohin auch immer diese Bahn fuhr, sie würde ihn nicht an das von ihm gewünschte Ziel bringen. Möglicherweise hatte man doch noch eine zweite Stadtbahnlinie gebaut, und es war seiner Aufmerksamkeit entgangen. Aber was will man mit einer Stadtbahn, die aus der Stadt hinausfährt? – Also die Eisenbahn? Hatte die Stadt C. einen Anschluss an jenes weitverzweigte Eisenbahnnetz erhalten, das sich wie das Mycel eines Pilzes von der Hauptstadt aus über alle Landstriche ausbreitete, dicht und wimmelnd zuerst und immer dünner und vereinzelter werdend mit wachsender Entfernung? Doch wie hatte ihm das entgehen können?
Einerlei, das konnte später geklärt werden. Jetzt galt es zu handeln. Kubin fuhr aus seinem Sitz hoch. Er musste den Schaffner finden.
Kubin bahnte sich einen Weg durch die im Gang stehenden Leute, die ihn mit schamlos direkten Blicken maßen und die nur unwillig einige Zentimeter zur Seite rückten. Es schienen sich von Minute zu Minute mehr Menschen im Wagen zu versammeln, was jedoch selbstverständlich nicht möglich war und was sich Kubin damit zu erklären versuchte, dass es sich um eine Täuschung handelte, der er unterlag, weil er zuvor von seinem Sitzplatz aus keinen rechten Überblick gehabt hatte.
Die derben Frauen mit den speckigen Schürzen kicherten in seinem Rücken, und als Kubin sich nach ihnen umdrehte, schauten sie ihn aus großen Augen an und taten ganz betont so, als verkniffen sie sich nur mit Mühe das Lachen und als täte ihnen das sehr leid. Ein kleiner, drahtiger Kerl in viel zu weiter Arbeitsjacke stand bei ihnen, der Kubin mit breitem Grinsen anblickte, ganz frei und dreist, direkt ins Gesicht. Sicherlich hatte er irgendeinen unflätigen Witz auf Kubins Kosten gemacht, um sich bei den Weibern einzuschmeicheln.
»Gevatter, nimm’s nicht weiter schwer – trink lieber einen mit uns!« Einer der Soldaten hielt ihm eine Flasche hin, in der irgendein durchsichtiger Fusel schwappte. Fünf, sechs, sieben weitere Kerle undurchsichtiger Natur, nachlässig gekleidet, die Hüte schief aufs Ohr geschoben und die Schnurbärte frech zwirbelnd, drängten sich in der Sitzgruppe. Einer saß auf der Armlehne, einer kauerte gar auf dem Boden und spuckte beiläufig aus. »Trink, Gevatter, sei nicht so!«
Kubin hob abwehrend die Hand und dankte.
»Bitte, bitte, Väterchen – gern geschehen. War ja wohl nur ein gedachter Schluck. Aber Schluck ist Schluck, und wir sind nun wohl Brüder!« sagte der mit der Flasche und verbeugte sich fast bis zum Boden, was der Rest der Meute mit einem Wiehern quittierte und auch die Blicke des übrigen Volks im Wagen auf die Szene lenkte.
»Küssen müsst ihr euch nun als echte Brüder!« rief der auf der Armlehne. »Na, wenn’s nur kein warmer Bruder ist«, warf der auf dem Boden Hockende hin und spuckte erneut aus. Ein noch lauteres Gelächter brandete durch den Wagen, und Kubin schüttelte ärgerlich den Kopf, schaffte sich durch energisches Schieben Platz und erreichte endlich die Tür.
Das im Zwischenraum noch viel lautere Rumpeln und Poltern des Zugs war ihm nach den unappetitlichen Rohheiten im Waggon eine Oase, in deren Frieden er sich gerne ein wenig gesammelt hätte. Was für ein unangenehmes Volk. Wie mochte es erst in der Zweiten Klasse sein? Es half nichts, denn der Zug rollte unterdessen weiter und weiter, ohne dass sich endlich ein Halt ankündigte, und draußen zeigten sich nun nur noch vereinzelt kleine Behausungen, wie Kubin durch die Einstiegstür sah. Unbewohntes Land breitete sich dem Blick hin, flach und karg und weit. Ein schwarzverkrümmter Baum glitt vorbei, wie ein erstarrter Schrei.
Kubin sah sich um – doch seine Hoffnung, dass es zwischen den Wagen vielleicht ein Notfalltelefon gab, wurde entäuscht. Nur der rot lackierte Griff der Notbremse schimmerte im Schatten über ihm.
Kubin straffte sich und öffnete die Tür zum nächsten Wagen. Rauch quoll ihm entgegen, der beißende Qualm billigen Pfeifentabaks und aus Resten zusammengedrehter und mit allerlei Beimengseln gestreckter Zigaretten. Und der unbeschreibliche Lärm aus unzähligen Kehlen in einem Dutzend Tonlagen und Dialekten und Sprachen.
Direkt bei der Tür saßen weitere Soldaten, zehn, vielleicht fünfzehn, ein ganzer Zug. Sie hatten in der stickigen Wärme ihre Mäntel von sich geworfen und hockten, im Drillich, enggedrängt beieinander auf den Holzbänken, auf dem Boden, ja, zwei hatten sich oben ins Gepäcknetz gelegt. Sie waren in ein Kartenspiel vertieft und kommentierten die Launen des Glücks mit lauten Rufen und Flüchen und ließen dabei Flaschen kreisen. Kubin musste über einen von ihnen hinwegsteigen, der sich lang auf dem Boden ausgestreckt hatte und, vom Alkohol übermannt, sinnlos vor sich hinlachte.
Einige abgekämpfte, staubbedeckte Männer in graublauer Arbeitsmontur sahen den Soldaten mit schläfrigem Interesse durch halbgeschlossene Lider zu. Eine Gruppe riesenhafter Kerle stand etwas weiter im Wagen, mit fantastisch bunten Schärpen um den Leib und Tättowierungen auf den Armen, unter denen Muskeln wie Kabeltrossen spielten. Das mochten Flößer sein oder sie konnten genauso gut auch gerade aus einem Straflager entlassen sein. Gewiss aber waren es keine Stadtbewohner. Andere Grüppchen sahen wie Hausierer aus und hockten auf ihren riesigen Rucksäcken und Kiepen. Kubin sah Hirten in weiten Hosen und glänzenden Stiefeln, mit offen im Gürtel steckenden Messern, die ihre Frauen im Arm hatten und einen jeden trotzig anblickten, wie um ihn dazu herauszufordern, ihrer Liebsten oder ihrer Ehre nur zu nahe zu kommen. Rot und blau und grün leuchteten die Röcke der Frauen, und auch ihre Blicke und ihr Lächeln waren herausfordernd.
Kubin erreichte das vordere Ende. Hier hatte sich eine Gruppe fahrendes Volk niedergelassen, Menschen, aus deren Augen die Erinnerung an ein Dutzend Länder und an hundert Städte leuchtete. Dunkelbraune, hagere, harte Gesichter; sehnige Arme, die aus den bauschigen weißen Hemdsärmeln stießen. Die Frauen waren im alles erfüllenden Qualm und Dunst am Klingeln und Blinken ihres üppigen Schmucks aus Silber und Gold auszumachen. Leuchtende Farben und fremde Wortfetzen und das Klagen und Juchzen einer Geige, zu deren Melodien die Gruppe im flirrend-schnellen Rhythmus klatschte und hin und wieder grelle Pfiffe ausstieß.
Den Schaffner sah Kubin nicht. Ihm schwindelte. Vom Getöse um ihn herum sicherlich und von der schlechten Luft, ganz gewiss aber auch, weil ihm für einen Moment das Ausweglose seiner Lage zu Bewusstsein kam. Schon längst ging es nicht mehr darum, nur pünktlich beim Gericht zu sein, sondern um den einfachen und drängenden Wunsch, diesem Zug zu entkommen und zurück nach C. zu gelangen, nach Hause.
Kubin warf sich wieder herum und kämpfte sich erneut durch die Menge und war froh, immerhin nicht wieder zum Ziel irgendwelcher Scherze zu werden oder gar mit den Leuten, die er zur Seite drängte, in Streit zu geraten.
Wieder im Zwischenabteil angekommen, blieb Kubin keuchend stehen und blickte wieder durch die Scheibe der Einstiegstür hinaus. Draußen die weite, weite, flache Landschaft. Ein Ziehbrunnen und ein Gehöft in der Ferne. Und neben dem Gleis, nicht mehr als fünfzig Schritt entfernt, war nun ein Fluss zu sehen. Kubin fuhr hoch, und sein Herz machte einen freudigen Satz – doch in der nächsten Sekunde war klar, dass es sich nicht um das Flüsschen handelte, das in C. lebhaft rauschend durch das Tal zwischen den Hügelketten strömte und die Stadt in ihre zwei Hälften teilte. Dieser Fluss hier war breiter, viel breiter, und er war schwarz und träge und zeigte so wenig Bewegung wie der tote Seitenarm eines Stroms. Welcher Fluss konnte das sein, welcher kam in Frage, den der Zug hatte erreichen können, seit Kubin eingestiegen war? Fetzen geographischen Schulwissens wirbelten lose durch Kubins kreisende Gedanken, nutzlose Fetzen, denn ihm wurde bewusst, dass er ja nicht einmal zu sagen vermochte, wieviel Zeit überhaupt vergangen war. Es konnte eine halbe Stunde sein oder auch vier Stunden. Aber welcher Fluss war von C. aus in vier Stunden zu erreichen?
Kubin stöhnte auf, und seine Hand fuhr hoch und riss am Griff der Notbremse. Sollte kommen, was wolle. Er war in Not, also musste man ihm zugestehen, dass er … – Es geschah nichts. Das Poltern und Rasseln und Stampfen hielt an, und draußen flog weiterhin das eintönige Grau vorbei, und das Ufergesträuch des dunklen Stroms.
Kubin ließ die Hand sinken und fühlte alle Kraft aus seinen Gliedmaßen sickern. Sein Leib ballte sich zu einem flüssigen Klumpen, und er hatte das dringende Bedürfnis, den Abtritt aufzusuchen. Ein Seufzer wie ein Winseln entfuhr ihm, und dieser Laut war so erbärmlich, das er Kubin erschreckte und ihn hochfahren und sich straffen ließ. Haltung, wenigstens die Haltung bewahren. Und einen kühlen Kopf. Kubin zog mit zittriger Hand sein Taschentuch heraus und fuhr sich damit über die Stirn. Haltung, sagte er sich, Haltung, Analyse und Handeln.
An eine abgeklärte Analyse der Lage war aber gar nicht zu denken. Denn es war etwas anderes, in der Kanzlei am Schreibtisch zu sitzen und in aller Ruhe einen Fall von allen Seiten zu betrachten und abzuwägen, als mit dem seltsamsten und zwielichtigsten Volk in einer vermeintlichen Stadtbahn gefangen zu sein, die einen statt zum Gericht unaufhaltsam in eine unbekannte Ferne trug. Doch immerhin hatte sich Kubin soweit gefangen, dass er aufrecht weitergehen konnte.
Irgendwo musste der vermaledeite Schaffner sein. Kubin betrat wieder den Wagen der Ersten Klasse. Auch hier schlug ihm Dunst entgegen. Es roch, wie es riecht, wenn zuviele Menschen zu lange zu dicht beieinander sind – nach Schweiß und Tabaksrauch, nach Suppe und Wurst, nach feuchten Socken und nach Flatulenz. Kubin drängte sich an der Gruppe um die zwei Soldaten vorbei, die ihn aber dieses Mal unbehelligt ließ, weil drei von ihnen gerade einen lärmenden Streit untereinander austrugen.
Das Gedränge schien noch größer geworden zu sein, und Kubin nahm das hin, ohne es sich noch weiter erklären zu wollen. In einem Sitzgeviert hatte man einen Topf auf einen Kocher gestellt. Dort waren besonders viele Leiber zusammengeballt. Überall saßen nun Menschen auf allem, was zum Sitzen taugte, auf den Armlehnen, dem Boden, den Abfallbehältern, und auch hier hatten es sich einige in den Gepäcknetzen bequem gemacht. Ja, Kubin bemerkte, direkt vor seiner Sitzgruppe, sogar ein Paar, einen jungen Burschen und sein Mädchen, die engumschlungen und kichernd dort oben lagen und sich abwechselnd küssten und mit frechem Blick um sich schauten, wie, um zu sehen, ob denn nicht irgendein Tugendwächter Anstoß an ihnen nehmen wolle.
Seinen Sitzplatz fand Kubin zu seiner großen Überraschung noch immer frei, nur auf dem Platz zu seiner Linken hatte sich inzwischen einer niedergelassen, der aussah wie ein kleiner Bauer, nein, eher wie ein Landarbeiter. Er blickte müde und teilnahmslos vor sich hin und fügte sich damit gut in die stumme Gruppe der sechs Frömmler, die Kubin zu seiner großen Erleichterung ebenfalls noch vorfand.
Er ließ sich in das Polster fallen. Nur für einen Moment, nur einen Augenblick, um sich etwas zu sammeln, die Gedanken zu bändigen und Kraft zu schöpfen. Und dann wollte Kubin den hinteren Wagen aufsuchen, denn dort musste der Schaffner ja sein, und dann würde er endlich etwas erreichen können und dann würde er sich nicht mehr wie ein Zweig auf einem Fluss fühlen und dann … Kubin sah aus dem Fenster, und richtig: dort zeigte sich noch immer der leblose Glanz des unbekannten Flusses im fahlen Februarlicht. Welcher Fluss nur …?
»Ihr Ticket, bitte, der Herr!«
Kubin fuhr herum und sah mit frohem Schreck den Schaffner vor sich stehen.
»Mein Ticket, natürlich, selbstverständlich.« Er reichte dem Mann den kleinen Papierfetzen. »Es ist gut, dass Sie hier sind, sehr gut! Ich habe Sie bereits gesucht, denn …«
»Mein Herr, ich muss Sie bitten, mich zur Klärung eines Sachverhalts in mein Dienstabteil zu begleiten.« Der Schaffner blickte Kubin kühl an.
»Ein Sachverhalt? Nun, gerne – sehen Sie, ich selbst hätte da einen Sachverhalt, nein, um der Wahrheit die Ehre zu geben: ein Problem, ein dringendes, erhebliches Problem …«
»Ja, das ist mir schon bekannt. Dass Sie sich anmaßen, meinem Zug Probleme anzudichten. Dass Sie sich gar einem Notfall ausgesetzt sehen. In meinem Zug.« Der Schaffner hatte seine kühle Förmlichkeit aufgeben und die letzten Worte, leicht vorgebeugt, mit erhobener Stimme hingeworfen.
»Ich verstehe nicht ganz …«
»Ja, das versteht der Herr nicht ganz.« Der Beamte sprach weiter mit lauter Stimme, und die ersten Umstehenden wurden aufmerksam und rückten, willkommene Unterhaltung witternd, heran. »Da hat der Herr vielleicht die Notfallbremsanlage nur versehentlich ausgelöst?«
»Ach, die Not… – nun, keineswegs. Ich habe die Notbremse durchaus mit Absicht …«
»Na, nun hören Sie sich den Herrn an. Da gibt er’s auch noch ganz frech zu!« Der Schaffner sprach nun direkt zu den Schaulustigen, von denen sich inzwischen eine ganze Traube gebildet hatte, die Kubins Sitzgruppe umdrängte.
»In Not war er, der Herr, in Not!« Der Schaffner zog das letzte »o« in die Länge, warf mit theatralischer Gebärde die Arme hoch und ließ seine Augen rollen. Die Umstehenden feixten, einige lachten schamlos.
»Aber natürlich, der Herr ist ja nicht irgendjemand, nicht irgend so ein dahergelaufenes Pack, das sich noch darum schert, was der Herr Schaffner meint. Nein, der Herr ist ein feiner Herr und hat seine eigene Meinung, nicht wahr? Der kümmert sich um keinen Schaffner, und wenn so ein Herr Not hat, dann hat er eben Not.«
Das Publikum wieherte auf.
»Was der Herr aber nicht weiß, ist, dass ich selbstverständlich Bescheid bekomme, wenn einer die Notbremsanlage betätigt. Da klingelt eine Glocke in meinem Dienstabteil, denn schließlich steht dieser Zug unter meiner Verantwortung!« Diese Worte waren geradezu geschrien und die Umstehenden murmelten zustimmend und musterten Kubin finster.
»Entschuldigen Sie, hier muss ein Miss…«
»Ja, da muss der feine Herr aus der feinen Stadtmitte hier mit solch ungewaschenem Gesindel zusammensitzen und diesen Anblick ertragen. Ja, gute Güte, wenn das kein Notfall ist, kein dringender Notfall für solch einen noblen Herrn Caféhausgänger und Schreibtischmenschen, nicht wahr?!« Wieder lautes Johlen und Lachen, einige klatschten, einer buhte.
»Da bleibt so einem feinen Herrn nur die Notbremsung. Soll doch das Pack sehen, wo’s bleibt und wie’s ans Ziel kommt. So ein Herr geht natürlich vor.« Der Schaffner verbeugte sich mit einem Kratzfuß und zog dabei seine Mütze, was wieder mit viel Gelächter und Beifall bedacht wurde.
»Er nimmt keinen Schnaps von uns!« rief nun einer aus der Menge, der Soldat von zuvor. »Ist ihm wohl zu billig«, pflichtete ihm sein Kumpan bei. Wieder ein lautes Johlen. »Er war kein einziges Mal pissen! Es ekelt ihn bestimmt!« Großes Gelächter und hier und da auch Murren. »Er hat uns angestarrt!« tat der Bursche aus dem Gepäcknetz kund und drückte dabei wie beschützend sein Mädchen an sich, das ängstlich-schmollend in die Runde blickte. Nun mischten sich in den allgemeinen und gar nicht mehr abbrechenden Tumult immer mehr Flüche, und hier und da wurde über den Köpfen eine Faust geschüttelt.
»Na, ich bitte Sie, liebe Leute, wollen wir doch alles in geordneten Bahnen belassen. Schließlich sind wir doch ordentliche Leute, auch wenn’s so feine Herrschaften nicht glauben mögen, oder?« Wie ein Volkstribun stand der Schaffner nun mit ausgebreiteten Armen vor der Meute.
Dann wandte er sich wieder Kubin zu und schlug einen gönnerhaft-spöttischen Ton an. »Also, lieber Herr, dürfte ich Sie untertänigst bitten, sich zunächst einmal auszuweisen? Mir zu sagen, mit wem ich es zu tun habe?«
Kubin ergriff mit Erleichterung die Möglichkeit, irgendwie wieder in ein von Vernunft und Regeln gelenktes Prozedere zu gelangen und verzichtete auf Einwände.
»Selbstverständlich. Ich bin Jurist.« Pfiffe und »Hört, hört«-Rufe gingen durch den Wagen. »Ich bin Jurist und eigentlich auf dem Weg zu einem Termin beim Landgericht.«
»Und da nehmen Sie die Bahn?« fragte der Schaffner, die Hände gefaltet und wieder halb dem Publikum zugewandt, das auch gleich wieder mit großer Heiterkeit reagierte. »Um ein paar Hundert Schritt von Ihrem Haus zum Gericht zu bewältigen? Wäre nicht ein Ballon besser gewesen? Oder ein Luftschiff?« Das Volk bäumte sich auf, einige krümmten sich vor Lachen und schlugen sich auf die Schenkel.
»Nun, es ist so, dass ich meine Kanzlei jenseits des Flusses habe, auf der Ostseite. Und ich dachte mir heute eben …«
»Auf der Ostseite?! Der?!« Rief einer aus der Menge.
»Sie wollen Ihre Kanzlei auf der Ostseite haben?« fragte nun auch der Schaffner und fügte, sich beifallheischend umblickend, hinzu: »Ja, natürlich, dort sind Sie näher an der Kundschaft, nicht wahr? Die Leute dort brauchen ja nichts dringlicher als einen Juristen und liegen ja ständig im Rechtsstreit miteinander.« Großes Gejohle.
»Im Ostteil gibt’s keine Kanzlei!« keifte eins der Weiber.
Kubin hob beschwichtigend und um Aufmerksamkeit bemüht die Hand und rief in den Lärm: »Und doch ist es so. Ich habe dort meine Kanzlei, nicht weit von der Unitarierkirche.« Und er nannte die Adresse und fingerte in seiner Westentasche nach einer Visitenkarte.
»Die kenne ich!« Übertönte da einer den Lärm. »Ich kenne diese Kanzlei.«
Ein großer Kerl drängte sich vor und baute sich neben dem Schaffner auf. Es wurde still.
»Bei der kleinen Kirche?« fragte er. »Mit der verbeulten Glocke, die so scheppert? Dort, meinst du?«
Kubin schrie fast zurück, so groß war seine Erleichterung. »Ja, dort, genau dort! Gleich ein Haus weiter habe ich meine Kanzlei!«
Der Große schwieg und musterte Kubin finster und sprach dann ruhig, aber für alle im Wagen vernehmlich: »Ja, diese Kanzlei kenne ich, die ist mir wohl bekannt. Aber nun hast du dich selbst verraten, du Schelm, denn diese Kanzlei gibt’s seit vielen Jahren nicht mehr. Das Haus stand leer, seit der Advokat eines Tages spurlos verschwand. Nun sitzt dort seit langem ein Trödler.«
Ein Raunen und Murren erhob sich wieder, in das sich Schimpfworte mischten. Einer der Soldaten rief: »Aufgepasst beim Schwindeln und Aufschneiden, du schräger Vogel, sonst gibt’s ganz schnell eine blutige Nase! Und nun lass uns in Ruhe mit derlei Unsinn!« Und sein Kumpan fügte hinzu: »Und die Pfoten weg von der Notbremse!«
Das brüllende Gelächter und die derbe Faust, die dicht vor seinem Gesicht geschüttelt wurde, nahm Kubin kaum noch wahr. Er wandte den Kopf zum Fenster und sah den Fluss, den dunklen, fremden Fluss, aus dem in diesem Augenblick zwei Wasservögel aufflatterten und dem Blick entschwanden.
…
Wenn wir Kubin nun verlassen, dann nicht mehr in der beschwingten Stimmung, die uns anfangs durchflattert und zu allerlei gedanklichen Bocksprüngen verleitet hat. Es tut uns leid um Kubin, und wir trennen uns ungern gerade jetzt von ihm. Aber was uns anging, ist mitgeteilt. Und überdies fragt sich dieser oder jene, ob der Erzähler nicht seiner Phantasie die Zügel hat schießen lassen und wieviel von allem überhaupt eine Krume Wahrheit enthielt.
Wahr ist, dass es das Städtchen C. gibt, und die gelben Wagen der Stadtbahnlinie 1 können wir jeden Tag geräuschvoll durch seine Hauptstraßen rollen sehen. Aber Kubin, Kubin und seine Fahrt ins Ungewisse? Vielleicht hat dieser Kubin alles geträumt, vielleicht aber hat irgendein anderer Mensch geträumt, dass ein Kubin geträumt habe.
Das Richtigste wird aber sein, vorderhand anzunehmen, dass sich alles genau so abgespielt hat, wie hier wiedergegeben. Und wer dagegen die Unwahrscheinlichkeit und Zusammenhanglosigkeit des Ganzen einwendet, der hat noch nicht viel vom Leben gesehen.
(Photo: Dortmund-Ems Canal, by Amelie)